Jacek Kowalski
Uniwersytet Technologiczno-Humanistyczny im. Kazimierza Pułaskiego w Radomiu
Einige Bemerkungen zur intermedialen Erzähltechnik in der polnischen Übersetzung des Debütromans Niebo pod Berlinem (dt.
Himmel unter Berlin – 2004) von Jaroslav Rudiš
Exkurs: Erzählte Bildlichkeit als Montage-Effekt: zum Verhältnis zwischen Bild und Text
Die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Bild und Text gehören zweifellos zum interdisziplinären Forschungsfeld, an dem mehrere Forschungsdiszipli- nen wie unter anderem die Kognitionspsychologie, Journalistik, Linguistik, Literatur- und Medienwissenschaft bzw. visuelle Kunstformen beteiligt sind. Textuelle und visu- elle Informationen begleiten die menschliche Zivilisation und Kultur seit der Antike. Das erzählte Instrumentarium umfasste jedoch ursprünglich verschiedene Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs (z.B. Holz- oder Steinschnitte). Unter dem Einfluss der Entwicklung des fotografischen Mediums in der Kulturgeschichte stehen die erste iko- nografische Hälfte des 20. Jahrhunderts und die zweite audiovisuelle Periode des 20. Jahr- hunderts bis heute.1 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Tendenz cha- rakteristisch, dass sowohl die Ikonografie als auch die audiovisuellen Darstellungsmittel nach gemeinsamen Darstellungsformen suchen. Die Symbiose zwischen Bild und Text findet ihre Anwendung in verschiedenartigen Kulturbereichen, insbesondere in der Lite- ratur. Aus kunstgeschichtlicher Sicht lassen sich folgende historische Darstellungsformen von Bild und Text2 unterscheiden: altgriechische technopagenia, lateinische carmina fi-
1 M. Hopfinger, W laboratorium sztuki XX wieku. O roli słowa i obrazu, Warszawa 1993, S. 161.
2 Ebd., S. 86.
gurata, das für drei nachfolgende Epochen charakteristische Figurengedicht (Mittelalter, Neuzeit und Barock-Embleme). Thomas Steinacker und Rolf Dieter Brinkmann stellen in ihrer Arbeit konkrete Differenzierungen visueller Erzählformen zwischen Bild und Text an.3 Diese werden in zwei Gruppen eingeteilt: Bilder-Texte und Foto-Texte.4 Besondere Aufmerksamkeit in funktionaler Hinsicht schenken die Autoren der Konstruk- tion des Barock-Emblems. Die visuelle Bild-Text-Form bestand aus drei Komponenten: aus Motto/Inscriptio, aus Pictura/Icon/Symbolon5 und aus Subscriptio mit dem besonde- ren Merkmal, auf Prätexte, d.h. auf eine gewisse Art von Allegorie hinweisen zu können, die den ganzen Bild-Text ausmacht. In der zweiten Gruppe der Foto-Texte unterstreichen die Autoren den Unterschied zwischen einem literarisch fundierten Fototext, d.h. Texten,
„die zusammen mit den Fotos abgedruckt sind“,6 und einem Künstlerbuch mit bebilderten Textseiten. An der sog. Konkreten Poesie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die rapide Tendenz einer Suche nach neuen Ausdrucksformen sichtbarer, die zwischen Bild und Text liegen. Die zeitgenössische postmoderne Kultur schöpft aus verschiedenar- tigen Formen des Dazwischen, die diese typische Mischform von Bild und Text verwen- den. Dick Higgins spricht über sog. Intermedia, um auf die Einheit zwischen textueller und visueller Darstellungsform hinzuweisen.7 Er knüpft an den hermeneutischen Terminus
‚Horizontverschmelzung‘8 an. Damit werden postmoderne Akzente von Dazwischen-For- men bezeichnet wie Text und Musik, Text und Bild, Text und plastische Künste. Um einen postmodernen Text interpretieren zu können, muss man über holistisches Wissen verfügen, weil sich das Geschaffene (Postmodernismus lässt keine ‚Werke‘ an sich zu) auf textu- ell-visuelle Erwartungshorizonte des Empfängers stützt. Als bildliche Darstellungsebene gelten Fotografien, Illustrationen, Gemälde, digitale Grafiken und Zeichnungen jeder Art. Die Perspektive des postmodernen Dazwischen verändert im grundlegenden Sinne die zeitgenössische Erzählkunst, die auf Innovation beruht und zwischen Schrift und Bild sowie zwischen Textwirklichkeit und nichttextueller Wirklichkeit funktioniert:
Besonderes Augenmerk muss bei der intendierten Untersuchung von »Visuo-Narrati- onen« (ein aufgrund der unterschiedlichen Konnotation gängiger Termini wie Bilderge- schichte, Bilderzählung etc. bewusst geschaffener Neologismus, mit dem die verschiedenen Erzählformen, bestehend aus Text und Bild, von nun an genannt werden sollen) dabei vor allem auf deren Funktion innerhalb der jeweiligen Gesellschaft gelegt werden.9
Die Text-Bild-Verhältnisse werden durch drei Begriffe definiert10:
– Diskrepanz – es handelt sich um verschiedene Darstellungskonzepte, weil die Infor- mationen im Bild und Text sich völlig überschneiden;
3 Vgl. T. von Steinaecker, Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brink- manns, Aleksander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld 2007, S. 12.
4 Ebd., S. 11.
5 Ebd.
6 Ebd., S. 13.
7 Vgl. D. Higgins, Nowoczesność od czasu postmodernizmu i inne eseje, Gdańsk 2000, S. 129.
8 Ebd., S. 114.
9 Vgl. S. Köhn, Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungs- linien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga, Wiesbaden 2005, S. 5–6.
10 Multimediale Quelle: Text-Bild-Verhältnis, S. 10–11, [In:] Text-Bild-Bezüge. Visuelle Medien – Design, Gestal- tung und Produktion von Druckmedien – http://mtech.unikoblenz.de – Zugriff am 15.03.2016.
Redundanz – beide Darstellungsmedien beziehen sich auf denselben Sachverhalt und die Informationen überschneiden sich völlig;
Ergänzung – Bild und Text ergänzen sich gegenseitig, ohne sich zu überschneiden. Der kommunikative Wert einer solchen textuell-visuellen Aussage wird durch die Ge- samtbedeutung bestimmt.
Auf der semantischen Ebene, die für die literatur- und medienwissenschaftlichen Analysen relevant ist, werden folgende drei Kriterien11 der Beziehung zwischen Bild und Text unterschieden:
textintegrierende Beziehung – durch den typischen semantischen Code eines Bildes (einer Fotografie) wird der Inhalt des Textes veranschaulicht;
textdominierende Beziehung – die Bilder verfügen über ein viel stärkeres kommuni- katives Potenzial als der Text selbst;
textergänzende Beziehung – die Bilder erfüllen die Rolle eines kommunikativ-
-illustrativen Hilfsmittels und sind für die Textrezeption nicht relevant, Bild und Text können unabhängig voneinander eine narrative Struktur bilden, der Text dient der Ordnung bei der visuellen Wahrnehmung eines Bildes.
Aktuelle Forschungsausblicke plädieren dafür, visuelle Darstellungsmittel (z.B. das Er- zählmedium Fotografie) im Dienste der intertextuellen und intermedialen Aspekte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (auch der Weltliteratur) zu betrachten.12 Zu nennen wären solche Autorennamen wie etwa Silke Horstkotte, Erwin Koppen, Mi- chael Neumann oder Sandra Poppe. Der enge Zusammenhang zwischen den Erzählformen Text und Fotografie kann einen statischen Charakter (ein Einzelfoto – meistens aus einem Familienalbum in literarischen Texten) oder einen dynamischen Charakter (eine narrative Fotosequenz) besitzen.
Als besonders repräsentatives Beispiel für den Montage-Effekt in der deutschsprachi- gen Literatur kann man den Epochenroman Doktor Faustus (1947) von Thomas Mann anführen:
Thomas Mann hat für seinen Epochenroman Doktor Faustus, der die politische, ge- sellschaftliche, kulturelle und philosophische Krise eines »Untergangs des Abendlandes« im Umfeld des Nationalsozialismus darstellen soll, die Musik als Leitmedium gewählt, welches in der Lage sein soll, die anspruchsvolle Poetik des Werks durch die interme- diale Struktur insbesondere des Verhältnisses von Musik und Literatur darzustellen. Der Musik als Spiegel und Reflexionsinstanz dieser epochalen Krise korrespondiert dabei die Montage als Darstellungsform, wodurch Mann den für die kulturelle Moderne epoch- alen Grundsatz der Musikalisierung der Sinne mit dem ebenfalls epochalen Verfahren der Montage kombiniert13.
Es muss dabei auf die Rolle der sich sowohl im polnischen als auch im deutschen Kommunikationsraum aktuell dynamisch entwickelnden Disziplin der Bildlinguistik hingewiesen werden, die die Fragen der gemeinsamen Beziehungen zwischen Text
11 Ebd., S. 10–11.
12 Vgl. F. Soulages, Estetyka fotografii. Strata i zysk, Kraków 2007, S. 308.
13 A. Käuser, Medium-Musik-Text. Montage als Darstellungsform, „Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Lin- guistik“, Heft 141, 2006, S. 159–173, hier S. 167.
und Bild aus multiperspektivischer Sicht (d.i. aus intertextueller und intermedialer Dar- stellungsperspektive) zu beantworten sucht. Eine Bemerkung der Text- und Bildlinguisten, die mich besonders interessiert, betrifft die Beschreibung und Untersuchung sog. hybrider Textmodelle:
Meine weiteren Forschungsdesiderate betreffen die Beschreibung hybrider Texte, die sprachliche Elemente mit nichtsprachlichen verknüpfen. Solche Texte, die Wörter, Bilder oder Töne zu einer Ganzheit verschmelzen, unterliegen getrennten Textmustern und sind auf besondere Weise aufgebaut. Die Kenntnis über dieses Thema ist weiterhin sehr beschränkt14.
Im zweiten Punkt des vorliegenden Artikels bespreche ich den Debütroman „Himmel unter Berlin“ des tschechischen Autors Jaroslav Rudiš und seine polnische Überset- zung, die mit zahlreichem visuellen Material versehen wurde, d.h. mit verschiedenar- tigen Illustrationen (Plakaten, abstrakten Bildern und authentischen Abbildungen wie z.B. dem Berliner U-Bahnnetz). Die Fragen, die ich in diesem Artikel beantworten will, beziehen sich auf die intermediale Erzähltechnik und lauten: Inwieweit verändern die Illustrationen in der polnischen Übersetzung die Gesamtaussage des originellen Romantextes von Jaroslav Rudiš? Welche Herangehensweise würde sich bei der Unter- suchung des textuell-visuellen Gefüges als besonders zutreffend erweisen? Die von mir entworfene Problemskizze mündet in den Bereich der literarischen Kommunikation aus dem Grenzgebiet von Literatur und der anderen visuellen Medien. An dieser Stelle möch- te ich Walter Benjamins berühmte These über den Begriff der „Aura”15 des Kunstwerkes in der Zeit seiner technischen Reproduzierbarkeit zitieren: »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«.16 Das Kunstwerk hat in der Zeit seiner technischen Reproduzierbar- keit seine einzigartige und einmalige Eigenschaft verloren – seinen ästhetischen Wert – und ist zu einem Instrument in der Zeit der technisierten Massenkommunikation geworden. Ähnlich verwendet die Literatur als Medium in ikonografischer Umgebung und unter Mitbeteiligung anderer Künste auch Reproduktionstechniken, d.h. dank der bildgestützten Re-produktion im laufenden Erzähltext kann die Gesamtaussage eines literarischen Textes an neuer Darstellungsoptik gewinnen, worauf ich im Einzelnen eingehe.
Der Debütroman „Himmel unter Berlin“ (2004) und seine polnische Übersetzung (2007)
gelesen durch die Brille von Walter Benjamin
Fast jeder Prosatext von Jaroslav Rudiš leitet seinen potenziellen Leser sofort in die Welt der medialen Sinnerfahrung. Nicht anders ist es im Falle seines Debütromans:
14 Das Zitat entnehme ich dem übersetzten Textfragment aus dem Artikel von Gerd Antos und Roman Opiłowski (G. Antos, R. Opiłowski, Auf dem Weg zur Bildlinguistik. Perspektiven für eine neue linguistische Subdisziplin aus deutsch-polnischer Sicht, [In:] G. Antos, R. Opiłowski, J. Jarosz, Sprache und Bild im massenmedialen Text. Formen, Funktionen und Perspektiven im deutschen und polnischen Kommunikationsraum, Breslau–Dresden 2014, S. 19–43, hier S. 33. (=Breslauer Studien zur Medienlinguistik).
15 B. Lindner, Walter Benjamin: Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart–Weimar 2011, S. 236–238.
16 W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Stuttgart 2011, S. 104.
„Es sind Geräusche, die einem in Erinnerung bleiben. Durch sie wird das Geschehene sortiert und wieder gefunden. Die Welt ist ein Tonstudio.“17 Mit diesem Satz beginnt der junge Autor (studierter Germanist und Rockmusiker) seinen Debütroman18. Aus diesem Grund sind manche fiktiven Erinnerungen im Debütroman als teils auto- biographisch zu betrachten. Der Textverfasser konstruiert eine surrealistische „(Unter) welt“, in welcher er seine Protagonisten handeln lässt. Die polnische Fassung des De- bütromans ist mit zahlreichen Illustrationen (es sind keine Fotografien – J.K.) versehen, die den ganzen Romantext umspannen. Der Romantext besteht aus zwölf separaten Kapiteln, die eigentlich als selbstständige Texte (Geschichten) hätten gelten können. Es handelt sich um surrealistische Geschichten, die sich in mehreren U-Bahnstationen Berlins abspielen, worauf selbst der Titel des Buches hinweist, der einigermaßen hinterhältig klingt: nicht „Himmel über Berlin“, wie man es erwarten könnte, sondern „Himmel un- ter Berlin“. Die fingierten Wirklichkeitsaussagen (die erdachte Welt von Rockmusikern, die aus der ehemaligen Tschechoslowakei und der DDR kommen und als Rockband
„U-Bahn“ ihre Schlager in den Berliner U-Bahnstationen spielen) werden mit individuellen Erinnerungen der Protagonisten an historische Ereignisse der Kulturepoche vor dem Jahr 1989 vermischt. Ich habe mich zwecks vorliegender Untersuchung dafür entschieden, nur die Illustrationen zu wählen, die für die Gesamtaussage des Romantextes in der polnischen Übersetzung relevant sind.
Die in den Romantext der polnischen Übersetzung einleitende Illustration ist eine
„Re-produktion“ des bekannten amerikanischen Plakats von James Montgomery Flagg. Das Plakat ist in die Kulturgeschichte als Rekrutierungsmedium, d.h. als Ermunterung, in die amerikanische Armee einzutreten (Ermunterung zum Aufbrechen), eingegangen. Das Plakat in der polnischen Fassung ist noch zusätzlich mit der Inschrift „Du bist kein Berliner“ versehen. Diese Worte erinnern den Leser stark an die Rede des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, der 1963 während seines Besuches in West-Berlin den be- rühmten Satz aussprach: „Ich bin ein Berliner.“ Die Gesamtaussage, die die Illustration und Inschrift zusammengenommen bilden, kann als ein visueller Palimpsest im Sinne von Gérard Genette19 gelesen werden:
17 J. Rudiš, Der Himmel unter Berlin, Übersetzt von Eva Profousová, Berlin 2004, S. 7.
18 Zitiert nach: Ebd. Der originelle Romantext ist 2002 erschienen und seine polnische bebilderte Fassung erschien erst fünf Jahre später.
19 G. Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Übersetzung von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993, S. 12.
Diese Illustration knüpft direkt an das Hauptmotiv im Roman an: An die Flucht, an den Aufbruch des Protagonisten aus Prag nach Berlin, wo er als Musiker (nicht mehr als Prager Lehrer) seine Kameraden kennenlernt und gemeinsam mit ihnen eine Rock- band „Ubana“ (dt. U-Bahn) gründet. Dank dieser Illustration mit der Inschrift „Du bist kein Berliner“ in der polnischen Fassung wird dieser Aufbruch ausdrücklich manifestiert. Der Hauptheld ist zwar kein Berliner, jedoch reflektiert er sein Leben aus der Perspektive der gemeinsamen Blickpunkte deutscher und tschechischer Kulturgeschichte – insbeson- dere der Zeit des „Eisernen Vorhangs“.
Der im Titel genannte „Himmel“ unter Berlin, d.h. die U-Bahnstation als „Spielraum“, wird offensichtlich zum „Kult-Ort“ der Rockmusik stilisiert. In den laufenden Erzähltext der einzelnen Textkapitel werden authentische fett gedruckte Songtexte ikonischer Vertreter der Rockmusik wie Iggy Pop (The Passenger) und Joy Division und insbesondere Song- texte aus der sog. Berliner Trilogie (Low, Heroes und Lodger) von David Bowie integriert. Aus dem Album „Low“ von David Bowie stammt der instrumentale Song „Speed of life“, der als musikalischer Hintergrund zu zahlreichen Illustrationen in der polnischen Fassung dienen könnte, die diese Musikidee – Idee der U-Bahnstation als eines „Kult-Ortes“ – hervorheben. Beim Durchblättern der Text- und Bildseiten in der polnischen Übersetzung entsteht ein unwiderlegbarer Eindruck von Schnelligkeit und Hektik – genauso wie bei der Text- und Bildlektüre: Jede Geschichte, die in der U-Bahnstation bzw. während der Fahrt mit der U-Bahn vom Haupthelden und seinen Kameraden erzählt wird, ist anders und stärkt beim Leser das Gefühl der Hektik nur noch mehr:
Das kollektive Bild der Mitglieder der Band „Ubana“ (der Tschechen und Deutschen) ist die Erinnerungsquelle an die ehemaligen Staaten DDR und Tschechoslowakei. Diese Erinnerungsart drückt sich im Charakter der Band, in den von der Band komponierten Songs und in der Bezeichnung der Band selbst aus:
Mein Bruder und ich, wir fanden das große Klasse, unsere Band übernahm prompt das Logo… und damit feierten wir unsere ersten Erfolge. Katrin erkläre ich, dass wir uns Drobný za bůra nannten und unter der ostdeutschen Flagge spielten, weil dieses Logo für uns den Inbegriff geistiger und körperlicher Kraft darstellte, genauso wie unsere Musik. Dem Publikum erzählten wir, wir kämen aus Saßnitz, und sangen deutsch-tschechisch. Auf die Plakate schrieben wir: Drobný za bůra – Made in Goethe Europe. […] Ein Lied kommt mir ganz dunkel in Erinnerung, das brachte Wahadlo mit, unser Sänger. Schnitzel und Bier, das ist dein Stil …. DDR ist der Kosmos meiner jungen Jahre, da wo ich mich nie verfahre, so bin ich niemals ganz allein, […].20
Warum sind es nur Geräusche, die einem in Erinnerung bleiben21? Der Debütroman von J. Rudiš unterstreicht die Korrespondenz von (Rock-)Musik und Literatur. Vieles lässt sich von der Bezeichnung der Band „Ubana“ ablesen – Musik der „Unterwelt“,
d.h. einer Welt, die nicht allen leicht zugänglich ist:
20 J. Rudiš, Der Himmel…, op. cit., S. 28.
21 Ebd., S. 7.
Diese Korrespondenz zwischen Musik und Literatur manifestiert sich auf deskriptiver Erzählebene (Beschreibung der Bandmitglieder) bzw. durch direkte Anführung eines fett- gedruckten Songtextes. In welchem Zusammenhang stehen der in dem Roman dargestellte historische Diskurs (deutsch-tschechische Annäherung, individuelle Lebenserinnerungen aus der Zeit der totalitären Regime) und die Verwendung der Bild- und Tonmedien zuei- nander? Meiner Ansicht nach zeigt die polnische Übersetzung des Debütromans starke Tendenzen zur Euphemisierung der Zeitgeschichte der totalitären Regime sowie der Men- schen, der Zeitzeugen, die über diese Zeitgeschichte aus individueller Perspektive erzählen. Solche intermediale Erzähltechnik kann mit der Brille von Walter Benjamin erklärt werden. Es handelt sich dabei wiederum um den „Aura“-Begriff und den von mir angesprochenen Status des Kunstwerkes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Eine logische Konsequenz des Aura-Begriffs: »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«22 ist der Distanz-Begriff, eine bestimmte intermediale Verfahrensweise, die im Fal- le der polnischen bebilderten Übersetzung des Debütsromans von Jaroslav Rudiš ihre Anwendung findet. Man kann nämlich über eine Ergänzung der Bild- und Textmedien
22 W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Reclam, Stuttgart 2011, S. 104.
sprechen, denn dadurch wird der kommunikative Wert des Debütsromans von Jaroslav Rudiš zur sinnhaften Fiktion (musikalischer Unterground) und Wahrheit (gemeinsame Berührungspunkte der deutschen und tschechischen Geschichte) stilisiert. Zugleich kann man diese intermediale Erzähltechnik als eine textergänzende Beziehung betrachten,
d.h. es wird zwar das bildliche Panorama des musikalischen Unterground in demselben Kontext wie im laufenden Romantext geschildert, die eigentliche Akzentuierung jedoch wird auf die visuelle Erzählschicht der musikalischen „Unterwelt“ verschoben, was be- deuten kann, dass beide Erzählmedien – Text und Illustrationen – wirklich voneinander unabhängige narrative Strukturen bilden können. Der ernsthafte Ton der Geschichte wird zum erzählerischen Vergnügen. Die polnische bebilderte Übersetzung zeigt ausdrückli- cher das literarische Vorhaben des Schriftstellers: den Spaß an der Geschichtsvermittlung und Identitätsbildung. Daher stößt der polnische Leser auf vergrößerte Abbildungen wie
z.B. das Gesicht eines fremden Reisenden oder die U-Bahn-Uhr bzw. ein Damenschuh (Perspektive der Nähe):
und verkleinerte (Perspektive der Ferne) Illustrationen des musikalischen Unterground in Berlin wie z.B. der Eingang zur U-Bahn-Station und das lachende Gesicht eines Musikers oder ein Fahrrad, das vor dem Eingang zur U-Bahn-Station steht bzw. auf jemanden wartet:
Hinter dieser intermedialen Erzähltechnik verbirgt sich das Selbstzitieren des Autors. Als Rockmusiker des surrealistischen Unterground distanziert er sich von der anfänglichen Funktion des Lehrers und wird zum Geschichtenerzähler. Er braucht solche geistige Verwandlung, um seiner Sozialisation, seinen kulturellen Lebenswurzeln möglichst nahe zu kommen, deswegen wirken zahlreiche Illustrationen in der polnischen Fassung als Beispiele der literarischen (bewusst distanzierten) Selbstreflexion23, d.i. als Bildzitate. Sie haben die Kraft, kulturelle Vorstellungsmuster lebendig zu machen und das Erzählen an der Schwelle zwischen Fiktion und Wahrheit als eigenartig zu legitimieren. Intertextuelles und intermediales Spiel sowie die ungewöhnliche Leichtigkeit der Sprache zeichnen die polnische Übersetzung des Debütromans von Jaroslav Rudiš aus, wodurch die Textlektüre eine neue muntere Dimension gewinnt und der potenzielle (polnische) Leser die Mö- glichkeit bekommt, eine souveräne Stellung zum Textproduzenten und zur dargestellten deutsch-tschechischen Kultur- und Zeitgeschichte zu beziehen.
Literaturverzeichnis
Rudiš J., Nebe pod Berlínem, Labyrint, Prag 2002.
Rudiš J., Der Himmel unter Berlin,Übersetzt von Eva Profousová, Rowohlt, Berlin 2004. Rudiš J., Niebo pod Berlinem, Tłum. Joanna Derdowska, Prószyński i S-ka, Warszawa 2007.
Antos G., Opiłowski R., Jarosz J., Sprache und Bild im massenmedialen Text. Formen, Funk- tionen und Perspektiven im deutschen und polnischen Kommunikationsraum, Breslau–Dresden 2014.
Benjamin W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Stuttgart
2011.
Buda A., In the postmodern mirror: intertextuality in Angels and Insects by Antonia Susan Byatt, “Journal of Language and Cultural Education”, 3(2), 2015.
Genette G., Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Übersetzung von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993.
Higgins D., Nowoczesność od czasu postmodernizmu i inne eseje, Gdańsk 2000. Hopfinger M., W laboratorium sztuki XX wieku. O roli słowa i obrazu, Warszawa 1993.
Käuser A., Medium-Musik-Text. Montage als Darstellungsform, „Zeitschrift für Literaturwis- senschaft und Linguistik“, Heft 141, 2006.
23 Eine ähnliche Form der Erzähltechnik, die sich der Elemente distanzierter Selbstreflexion auf intertextuellem Boden im englischen Kulturraum bedient, erwähnt in ihrer Arbeit die polnische Literaturwissenschaftlerin Aga- ta Buda. Vgl. dazu: A. Buda, In the postmodern mirror: intertextuality in Angels and Insects by Antonia Susan Byatt. "Journal Of Language and Cultural Education", 3(2), 2015, S. 103–110.
Köhn S., Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga, Wiesbaden 2005.
Lindner B., Walter Benjamin: Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart–Weimar 2011. Soulages F., Estetyka fotografii. Strata i zysk, Kraków 2007.
Steinaecker von T., Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Aleksander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld 2007.
Originelle Illustrationen aus der Erstfassung des Buches von Jaroslav Rudiš wurden nach vorheriger Genehmigung des tschechischen Labyrint – Verlags, www.labyrint.net verwendet (die bebilderten Textseiten werden nicht nummeriert).
Text-Bild-Bezüge. Visuelle Medien – Design, Gestaltung und Produktion von Druckmedien –
http://mtech.unikoblenz.de [15.03.2016].
Abstract
Several remarks on the intermedial technique of narration in the Polish translation of a debut novel “The Sky Under Berlin” by Jaroslav Rudiš
In the theoretical part, we present a historical tradition of the so-called montage effect as a relation between a text and a picture, which relates to the discipline known as linguistics of an image. In the material part, we analyze the intermedial narration technique on the example of a Polish translation of a quasi-novel (a debut novel) by Jaroslav Rudis Niebo pod Berlinem which is examined in the light of Walter Benjamin’s theory of culture.